Fachartikel zu ISD

Förderplanung mit der “Interdisziplinären Schülerdokumentation” ISD

In den letzten Jahren ist in der Schweiz ein Trend zu integrativer sonderpädagogischer Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen erkennbar. Dieser Bereich betrifft nicht nur eine kleine Minderheit, sondern einen beachtlichen Anteil der Schülerinnen und Schüler, je nach Kanton aktuell bis zu 30% aller Kinder[1]. Integrative sonderpädagogische Förderung ist somit ein hoch bedeutsamer Bereich der öffentlichen Schule, die sich in der Folge dieser Entwicklungen der Herausforderung der Integration von Kindern mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen und damit von pädagogisch-therapeutischen Elementen und individuell angepassten Förderangeboten in den Unterricht gegenüber sieht. Der Aspekt der Förderplanung als gemeinsame Aufgabe von Lehrpersonen und Fachpersonen aus dem Bereich der schulischen Sonderpädagogik ist dabei von entscheidender Bedeutung und erfordert interdisziplinäre Kooperation. In mehreren Kantonen (Kanton Zürich aufgrund einer gesetzlichen Vorlage) wird die Planung und Zuweisung sonderpädagogischer Massnahmen mit einem einheitlichen Verfahren, dem „Schulischen Standortgespräch“ (SSG) realisiert (Hollenweger & Lienhard, 2007). Das SSG ist Ausgangspunkt einer interdisziplinären Förderplanung, welches die Kooperation unter den beteiligten Akteuren und die Zielorientierung aufgrund einer Fokussierung auf einzelne Teilbereiche hervorhebt. Im folgenden Beitrag wird die „Interdisziplinäre Schülerdokumentation“ ISD vorgestellt. Dieses aus einer Kooperation zwischen der Firma Pulsmesser und der Pädagogischen Hochschule Zürich PHZH entwickelte webbasierte Instrument unterstützt und vereinfacht die zielbezogene interdisziplinäre Zusammenarbeit und Schülerdokumentation.

Ausgangspunkt Schulisches Standortgespräch

In den Jahren 2002 bis 2005 wurde im Kanton Zürich unter engem Einbezug des Praxisfeldes das Verfahren SSG entwickelt und evaluiert. Es weist die folgenden wesentlichen Merkmale auf:

  • Orientierung an Teilbereichen der ICF: Inhaltlich lehnt es sich an ausgewählte Elemente der “Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF)” an, indem phänomenologische Beschreibungen entlang der Lebensbereiche der ICF-Komponente “Aktivitäten und Partizipation” ins Zentrum gerückt werden (Beispiele: “Mathematisches Lernen”, “Umgang mit Menschen”, “Umgang mit Anforderungen”).
  • Gleichberechtigter Einbezug der Beteiligten: Das Standortgespräch wird nicht von einer Profession (z.B. der Klassenlehrperson oder der Fachperson in Schulischer Heilpädagogik) dominiert. Vielmehr verwenden alle Beteiligten das gleiche Vorbereitungsformular und legen gemeinsam die vertieft zu besprechenden Themenkreise fest.
  • Förderorientierung mit klar formulierten Zielsetzungen: Es wird nicht in erster Linie eine besondere sonderpädagogische Massnahme definiert, sondern Förderziele, zu denen möglichst alle der Beteiligten das Ihre beizutragen haben.
  • Systematische Überprüfung: Die vereinbarten Ziele werden – wiederum unter Einbezug aller wesentlichen Beteiligten – periodisch überprüft und gegebenenfalls angepasst. (Gschwend, Lienhard & Steppacher, 2006, S.28)

Dieses Verfahren gilt als standardisierter Ausgangspunkt einer interdisziplinären und zielorientierten Förderplanung. Das ist eine notwendige Massnahme, denn die Forschung zeigt, dass das bisherige Spektrum der in der Praxis realisierter Förderplanungen äusserst heterogen ist. Während einige sonderpädagogische Fachpersonen sehr geplant und an expliziten Vorgehensweisen orientiert vorgehen, arbeiten andere rein nach aktuellen, individuellen und weitgehend unreflektierten Präferenzen und gehen dabei nicht systematisch vor (Luder, Niedermann & Buholzer, 2006). Förderziele werden oft vage und inkonsistent mit diagnostischen Informationen formuliert und generell muss die interne Konsistenz und Qualität individueller Förderpläne in vielen Fällen kritisch betrachtet werden (Giangreco  et al., 1994, Poppes et al., 2002).

Verschiedene Arbeiten liefern Hinweise, wie geeignete Vorgehensweisen der Förderplanung gestaltet werden könnten (z.B. Thomas, 1998; Sopko, 2003). Im deutschsprachigen Kontext liegt der Fokus meist darauf, die einzelnen Schritte von der Diagnostik über die Förderplanung und -umsetzung sowie deren Evaluation bis zur Feststellung der Zielerreichung in einen konsistenten Prozessverlauf zu integrieren (Buholzer, 2003; Luder, Felkendorff, Kunz & Diezi, 2010).

Interdisziplinäre Schülerdokumentation ISD

Professionelle Zusammenarbeit zwischen Lehrpersonen kann auf der Basis theoretischer und empirischer Erkenntnisse als äusserst voraussetzungsreich (vgl. z.B. Maag Merki, 2009) beschrieben werden. Gelingens- und Risikofaktoren können dabei (ebd.) in verschiedenen Bereichen angenommen werden: (1) Bereitstellung von Unterstützungssystemen (2) eine Bedürfnisorientierung und Adaptivität (3) die Berücksichtigung emotional-motivationaler Voraussetzungen der Akteure (4) Gemeinsame Zielvorstellungen und verbindliche Regelungen (5) eine konzeptionelle und didaktische Gestaltung von Kooperation und (6) die Schaffung von Rahmenbedingungen und Strukturen.

Aus dieser Perspektive kann die Interdisziplinäre Schülerdokumentation ISD  als webbasierte kollaborative Plattform beschrieben werden, welche den kooperativen, interdisziplinären und zielorientierten Ausgangspunkt des Schulischen Standortgespräches weiterführt, als Unterstützungssystem begleitet und die Aufrechterhaltung gemeinsamer Zielvorstellungen ermöglicht. Durch eine regelmässige Dokumentation der Aktivitäten und Partizipationsmöglichkeiten des Kindes / des Jugendlichen durch sonderpädagogisches Fachpersonal und Regelklassenlehrpersonen ermöglicht das Instrument eine interdisziplinäre Praxis der Beobachtung, Planung und Auswertung. Dieses Konzept einer gemeinsamen Dokumentation mündet in einen gemeinsamen halbjährlich oder jährlich verfassten Förderbericht. Die momentan von den Autoren beobachtete Praxis der Dokumentation zeigt tendenziell eine wenig aufeinander abgestimmte Vorgehensweise (z.B. keine gemeinsam abgesprochenen Ziele) und stark professionsbezogene Herangehensweisen (z.B. Therapiebericht, Förderbericht der SHP, Bildungsdokumentation über Portfolio der Regelklassenlehrperson). Insbesondere die Orientierung an Teilbereiche der ICF als gemeinsame Sprache im Rahmen des SSG und die interdisziplinäre Ausrichtung auf Entwicklungsziele eröffnet hier Verbesserungsmöglichkeiten und wird im ISD stark gewichtet. Auf diese Weise kann die interdisziplinäre Kooperation zwischen Lehrpersonen in Bezug auf die integrative Förderung von Kindern mit besonderen Bedürfnissen auch ein Gefäss darstellen, in welchem die Kompetenzen der Lehrpersonen (Baumert & Kunter, 2006) weiterentwickelt und die schulischen und unterrichtsbezogenen Handlungen bezüglich gemeinsam verantwortetem integrativen Unterricht professionalisiert werden können.

Beschreibung des Instrumentes

Die Idee der ISD basiert auf der zweiten Seite des Schulischen Standortgespräche (Verstehensprozess, siehe Abbildung 1). Dieses zentrale Element des Verfahrens ist stark an eine Kind-Umfeld-Analyse (Sander, 1998) angelehnt. Dieser Teil des Verfahrens, der sich im Rahmen der Moderation eines SSG vielfach als sehr komplex zeigt, wird durch das Instrument ISD in den pädagogischen / therapeutischen Praxisalltag weitergeführt.

Abbildung 1: Protokollformular aus SSG, 2. Seite

Die kurze nachfolgende Beschreibung der Interdisziplinären Schülerdokumentation gilt als Ergänzung zu den Lehrfilmen und Beschreibungen im Blog von Pulsmesser (siehe unter ISD).

ISD ermöglicht Angaben zu Beobachtungen des Schülers/Jugendlichen und Planung von Interventionen. Diese Informationen können von allen beteiligten Akteuren am Förderpozess jederzeit eingesehen werden. Diese Dokumentation kann durch zusätzliche Instrumente wie z.B. der Webbasierte Förderplaner WFP (Gschwend et al., 2006) im Rahmen einer ICF-basierten und personenorientierten Erfassung und z.B. dem Instrument Qualitätssicherung in Schulen QSS (Gschwend, 2008) im Rahmen einer Unterrichtsentwicklung unterstützt werden. Die technische Umsetzung von ISD ermöglicht das direkte Abfragen von zusätzlichen Instrumenten (z.B. WFP) durch den ICF-Teilbereich und der Angabe der Funktion des Pädagogen bzw. Therapeuten (siehe dazu Abbildung 2).


Abbildung 2: Interdisziplinäre Schülerdokumentation

Die Berichtsfunktion in der ISD ermöglicht die Synthese aller Informationen entlang der ICF-Teilbereiche oder entlang der Ziele aus dem Schulischen Standortgespräch. Daraus können Zeugnisberichte, Förderberichte oder umfängliche Dokumentationen der Entwicklung z.B. zuhanden des Standardisierten Abklärungsverfahrens (SAV-PES, Hollenweger & Lienhard, 2008) generiert werden. Diese Sammlung von Daten über den Enwicklungsverlauf müssen allerdings zur Berichtserstellung von der fallführenden Person reduziert, gewichtet und interpretiert werden. Diese komplexe Tätigkeit wird allerdings nur einmal pro Berichtserstattung für alle beteiligten Akteure im Förderprozess gemacht.

Die einfache Bedienung und das Erschliessen von zusätzlichen Instrumenten soll die Praxis der interdisziplinären Dokumentation erleichtern und den zeitlichen Aufwand aller Beteiligten aufgrund eines gemeinsamen Berichtes in einer gemeinsamen Sprache verringern. Durch die Orientierung an (Kompass-)Zielen und der einsehbaren Dokumentation von Beobachtungen und Planungen im Rahmen eines kollaborativen Raumes, erhoffen sich die Autoren eine zielorientierte, interdisziplinäre Kultur in einem kollaborativen Setting und eine verbesserte Qualität der Förderplanung. Insbesondere in integrativen Schulformen könnte durch eine standardisierte Dokumentation der Entwicklung bei Übergängen (HFE-Kindergarten-Primarschule-Sekundarschule) weniger Wissen verloren gehen, das als Basis für die nachfolgende Planung und/oder Platzierung innerhalb oder ausserhalb der Regelschule dient.

Das Instrument ISD wird in Zusammenarbeit von Pulsmesser und der Forschungsgruppe Gesundheit und besondere pädagogische Bedürfnisse der PHZH fachlich-inhaltlich weiterentwickelt, laufend aktualisiert und ergänzt.

Ein weiterer Vorteil des ISD liegt in seiner Modularität. Sie ermöglicht die bedarfsspezifische Ankoppelung zusätzlicher Ressourcenbereiche und Informationsquellen, sei es zur Seite des Kindes oder zur Seite des Umfelds. Dazu gehören etwa diagnostische Hilfsmittel und Instrumente auf Seiten des Kindes oder Ressourcen zur individualisierten Unterrichtsgestaltung oder Informationen zu möglichen Unterstützungsangeboten auf Seiten des Umfelds.

Literatur

Baumert, J. & Kunter, M. (2006). Professionelle Kompetenz von Lehrpersonen. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft. 9(4), S. 469-520.

Buholzer, A. (2003). Förderdiagnostisches Sehen, Denken und Handeln. Sauerländer: Aarau.

Giangreco, M. F., Dennis, R. E., Edelman, S. W. a., & Cloninger, C. J. (1994). Dressing your IEPS for the general education climate: analyses of IEP goals and objectives for students with multiple disabilities. Remedial and Special Education, 15(5), S. 288-296.

Gschwend, R. (2008). Qualitätssicherung in Schulen (QSS). Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, 14 (9), S. 34-36.

Gschwend, R., Lienhard, P. & Steppacher. J. (2006). Webbasierte Interaktive Förderplanung. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, 14 (9), S. 28.32.

Hollenweger, J & Lienhard, P. (2008). Entwicklung eins standartisierten Abklärungsverfahrens zu Ermittlung des individuellen Bedarfs. Internet: http://www.sav-pes.ch (11.3.2010).

Hollenweger, J. & Lienhard, P. (2007). Interdisziplinäre diagnostische Einschätzung der Situation von Schülerinnen und Schülern der Volksschule. Handreichung für die Durchführung von schulischen Standortgesprächen. Ein Verfahren auf der Basis der Internationalen Klassifikation der Funktions-fähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Zürich: PHZH.

Luder, R., Felkendorff, K., Diezi-Duplain, P. & Kunz, A. (2010). ICF-basierte Förderplanung als Beitrag zur Professionalisierung kooperativer und multidisziplinärer Förderplanung in inklusiven Schulen. In: Ellger-Rüttgardt, S. L. & Wachtel, G. (Hrsg.) Pädagogische Professionalität und Behinderung. Herausforderungen aus historischer, nationaler und internationaler Perspektive. Stuttgart: Kohlhammer (im Druck).

Luder, R., Niedermann, A. & Buholzer, A. (2006). Förderdiagnostisches Arbeiten in Theorie und Praxis. Ergebnisse einer qualitativ-empirischen Studie. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 75, S. 293-305.

Maag Merki, K. (Hrsg.). (2009). Kooperation und Netzwerkbildung. Strategien zur Qualitätsentwicklung in Schulen. Seelze: Klett-Kallmeyer.

Poppes, P., Vlaskamp, C., De Greeter, K. & Hakken, H. (2002). The importance of setting goals: the effect of instruction and training on the technical and intrinsic quality of goals. In: Journal of Special Needs Education 17, S. 241-250.

Sander, A. (1998). Kind-Umfeld-Analyse. In: Mutzeck, W. (Hrsg.). Förderdiagnostik bei Lern- und Verhaltensstörungen. Weinheim: Beltz, S. 6-19.

Sopko, K. M. (2003). The IEP: A Synthesis of Current Literature Since 1997. Alexandria (VA): NASDSE.

Thomas, J. (1998). Individual educational planning. A handbook for developing and implementing IEPs. Winnipeg: Manitoba Education and Training.

links:

Interdisziplinäre Schülerdokumentation ISD: www.pulsmesser.ch/isd

Blog mit Lehrfilmen und Dokumentation zu ISD: www.pulsmesser.ch/blog (siehe Thema ISD)

Autoren:


[1] Gesamtschweizerisch existieren keine verlässlichen Statistiken über den Umfang integrativer sonderpädagogischer Unterstützung. Die kantonalen Zahlen sind heterogen, liegen aber im Schnitt um diesen Wert, z.B. im Kanton St.Gallen bei 24.5% für das Jahr 2009 (http://edudoc.ch/record/35767/files/documentsonder.pdf), im Kanton Zürich bei 40.4 Massnahmen pro 100 Schüler für das Jahr 2008 (http://www.bista.zh.ch/sop/SOP-Massnahmen.aspx).